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Rundbrief Januar 2021

Von dem inneren Reichtum, uns und andere zu ertragen

Margarethe Randow-Tesch

Im Jahre 1977 sagte der Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt am Ende seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille bemerkenswerterweise: »Der Mensch kann nur überleben, wenn er den inneren Reichtum besitzt, sich selbst und den Nächsten zu ertragen ... Der Krieg ist leichter auszuhalten als der Friede… Sich in dieser Welt nicht zu fürchten ist vielleicht die Botschaft, die uns nicht die Vernunft, sondern nur jene geheimnisvolle Fähigkeit des Menschen geben kann, die wir etwas verlegen Glauben nennen.« Dürrenmatt war bekennender Atheist, aber fasziniert von dem dänischen Theologen Sören Kierkegaard und dessen »Sprung über die Mauer« des Intellekts durch den Glauben.

Dieser Sprung über die Mauer des begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögens, um unsere Erfahrungen in der platonischen Höhle neu zu deuten, die wir die Welt von Zeit und Raum nennen, ist auch das Kennzeichen des Kurses. Aus der Perspektive jenseits der Mauer beziehen die Aussagen des Kurses ihren Sinn und lassen die Welt in einem anderen Licht erscheinen. Über den permanenten Konflikt (Mensch gegen Mensch, Mensch gegen Natur und so weiter und so fort), der eine beobachtbare Tatsache dessen ist, was wir das Leben nennen und den wir gern für einen unglücklichen Zufall oder eine beherrschbare Entgleisung halten möchten, heißt es im Kurs: »Die Welt bietet keine Sicherheit. Sie wurzelt im Angriff, und alle ihre "Gaben" der scheinbaren Sicherheit sind illusionäre Täuschungen« (Ü-I.153.1:2-3; Kursive von mir). An einer anderen Stelle des Kurses heißt es: »Sei ehrlich: Fällt es dir nicht schwerer zu sagen: "Ich liebe" als: "Ich hasse"? Du assoziierst Liebe mit Schwäche und Hass mit Stärke, und deine eigene wirkliche Macht, die Liebe, erscheint dir als deine wirkliche Schwäche« (T-13.III.3:1-2). Wer sich einigermaßen ehrlich beobachtet, wird das kaum leugnen können.

In der Tat ist ein notwendiger Baustein auf dem Weg zu dem inneren Reichtum, sich selbst und den Nächsten zu ertragen, die ruhige Einsicht, wie sehr ein Teil von uns davon angezogen ist, Aufregung und Konflikt wahrzumachen, und wie sehr wir dazu neigen, die Liebe (die die Essenz unser aller Wirklichkeit ist), abzuwehren, um unser »Höhlenbewohner-Selbst« zu schützen. Dies in uns zu beobachten ist das Einzige, worum wir im Kurs gebeten werden. Es der Liebe in unserem Innern auszusetzen, damit es als Irrtum erkannt werden kann, statt es zu rechtfertigen und dadurch zu zementieren, nimmt die Last der Schuld von uns. Die Liebe, die durch die Worte des Kurses atmet, ist das Gegenteil der unbewussten Geistesverfassung der Angst, die wir zu unserer Wahrheit in der Welt ernannt haben; sie ist die Aufhebung dieser Angst. Sie folgt nicht der Logik des Urteils, das in Gut und Böse, Würdig und Unwürdig einteilt. Daher heißen wir sie allen Beteuerungen zum Trotz nicht mit fliegenden Fahnen willkommen. Doch gleichzeitig zieht sie uns an, wie es nichts in der Welt kann. In dieser Ambivalenz bewegen wir uns, wenn wir mit dem Kurs oder einem anderen authentischen spirituellen Weg arbeiten: »Die Liebe ruft, der Hass will aber, dass du bleibst« (T-16.IV.11:3). Mit anderen Worten: Wir sind von zwei Zielen angezogen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Das eine Ziel besteht darin, die Freiheit des Geistes – die wahre Unschuld – wiederzufinden, was bedeutet, den Sprung über die Mauer zu wagen, jenseits derer uns das Ego als bedeutungsloser Traum enthüllt wird; das ist der schmale Weg der Selbstreflexion und des Glaubens. Es ist ein schwieriger und lebenslanger Weg. Das andere besteht darin, uns in der platonischen Höhle als Realität einzurichten, rechtzuhaben und unser Konzept von uns selbst zu schützen. Dann sind Unterschied, Angriff, Urteil und Verfolgungswahn unsere Verbündeten und werden unwiderlegbar. Wir haben sie im Innern mit großer Bedeutung ausgestattet, und sie kommen uns mittels der Projektion im Äußeren wieder entgegen. Das ist der gängige Weg der Welt.

Auf diesen Konflikt der beiden Ziele brauchen wir eine Antwort; auf keinen sonst. Die Antwort, die wir vorziehen, zeigt sich fortlaufend in dem, was wir Alltag nennen. Egal, welche Meinung wir zu einem Problem in der Welt haben, ob Pro oder Contra – Verbissenheit und der Verlust des Friedens zeigen an, dass wir noch etwas zu lernen haben, denn wir sehen und bekämpfen den Konflikt dort, wo er nicht ist – in der Schattenwelt der Symptome, in der wir uns mit zeitgebundenen Symptomen auseinandersetzen können (und auch müssen), aber nicht den tieferen Konflikt lösen werden. Das ist gemeint, wenn es im Kurs heißt: »Bleibe nicht im Konflikt, denn es gibt keinen Krieg ohne Angriff« (T-23.IV.1:1).

Es bedarf in der Tat des Glaubens, dass es eine Wirklichkeit außerhalb der Höhle gibt, in deren freundlichem Licht wir die Angst in der Höhle und vor ihr verlieren. Vertrauen zum Heiligen Geist wird im Kurs als notwendiges Fundament bezeichnet, um Vertrauen in die Welt zu haben (H-4.I.1:4). Nicht das Vertrauen, dass die Welt funktioniert und stets unsere psychophysischen Bedürfnisse befriedigt, sondern das Vertrauen, dass unser kleines Leben hier unser spezieller Weg aus dem Irrtum heraus ist; dass das, was aus Angriffsdenken geboren wurde, dem Zweck der Heilung und Befreiung dienen kann, wenn wir es denn wollen. Im Kurs heißt es, dass wir keine Entscheidung je ohne einen inneren Berater – das Ego oder den Heiligen Geist – treffen und unser Berater nur so viel Macht hat, wie wir ihm Glauben schenken. Äußere Entscheidungen sind Spiegel innerer Entscheidungen. Letztlich geht es nur um eine Entscheidung: nämlich, was wir für die Natur des Problems halten. Der Glaube, den wir auf das Ego setzen, ist der Glaube an die Wahrheit und Macht einer alles zerstörenden Schuld im Innern, die uns im Äußeren entgegentritt, wo wir meinen, sie kontrollieren und bekämpfen zu müssen. Dann kämpfen wir unseren stummen (oder lauten) Kampf gegen ein Ungeheuer, dessen Köpfe ständig nachwachsen.

Der Glaube an den Heiligen Geist hingegen erinnert uns daran, dass es kein Ungeheuer im Innern gibt. Das ermöglicht uns, unsere Waffen – das Vertrauen in das Egodenksystem – niederzulegen und auszuruhen. Auch das spiegelt sich äußerlich. In solchen Augenblicken kehrt der innere Reichtum wieder, mit dem wir uns und andere in der Höhle, die wir die Welt nennen, ertragen können. Wir finden Gelassenheit in dem Gedanken, dass es eine Wahrheit jenseits unserer »Wahrheit« gibt, eine alles umfassende Ordnung jenseits unserer verzweifelten Kontrollversuche. Und wir brauchen nichts zu tun, außer bereitwillig zu sein, sie einzulassen.

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